1843–1927, Ärztin
Deutsche Ärzte wollten keine Frauen in ihren Reihen. So begründete der Münchener Anatom Theodor von Bischoff 1872, dass Frauen »wegen ihrer schwachen Konstitution und ihrer intellektuellen Minderbegabung (bedingt durch die geringere Gehirnmasse)« für den Ärzteberuf ungeeignet seien. Und weiter: »(…) die Ausübung der Medizin widerstreitet und verletzt die besten und edelsten Seiten der weiblichen Natur, die Sittsamkeit, die Schamhaftigkeit, Mitgefühl und Barmherzigkeit, durch welche sich dieselbe von der männlichen auszeichnet«.
Bis 1899 war es Frauen verboten, Medizin zu studieren.
Daß ich von Anfang an mit Begeisterung an die Sache herangetreten bin, kann ich also nicht behaupten, (…) durchgeführt habe ich es aber doch, und ich füge gleich hinzu, daß ich sehr glücklich in meinem Beruf gewesen bin.
1843
Geburt und Kindheit auf dem Hofgut Bisdamitz/Rügen in bürgerlichen Verhältnissen
1851
Umzug nach Stralsund nach dem tödlichen Unfall des ältesten Bruders
1855
Tod des Vaters
1860
Erzieherin bei Baron Lyngen in Werbelow (Uckermark)
1868
Lehrerexamen in Stralsund
1869
Hauslehrerin bei einer englischen Pfarrfamilie
1871
Rückkehr nach Rügen (Rambin) zur Pflege des kriegsversehrten Bruders Karl
1871
Medizinstudium in Zürich
1876
Doktorexamen und Volontariat in der Gynäkologischen Klinik Dresden
1876
Eröffnung der ersten Ärztinnenpraxis in Berlin
1878
Eröffnung der ersten Poliklinik für mittellose Frauen und Kinder, zusammen mit Dr. Emilie Lehmus in Berlin
1894
Einige Universitäten lassen Frauen als Gasthörerinnen zu
1897
Deutschlandweiter Ausbau des solidarischen Krankenkassensystems
1899
Zulassung von Studentinnen an allen deutschen Hochschulen
1927
Franziska Tiburtius stirbt mit 84 Jahren am 5. Mai in Berlin
Zunächst war die 1843 in Bisdamitz auf Rügen geborene Franziska Tiburtius der gleichen Meinung. Doch ausgerechnet ein Mann, ihr um neun Jahre älterer Bruder Karl (1834–1910) belehrte sie eines Besseren. Er hatte Allgemeinmedizin studiert und praktizierte in Berlin. Aus eigener Anschauung wusste er, dass die vorherrschende Meinung seiner Kollegen über die zu ›geringe Gehirnmasse‹ bei Frauen nicht zutraf. Denn er war dem ersten weiblichen Zahnarzt Deutschlands begegnet und von ihrem Intellekt beeindruckt: Henriette Hirschfeld (1834–1911).
Gemäß den damaligen Konventionen hatte seine jüngere Schwester Franziska aber zuerst in Stralsund das Lehrerinnen-Examen abgelegt und arbeitete als Hauslehrerin in England auf dem Lande. Allerdings war sie nicht glücklich in ihrem Beruf, und ihr Bruder legte ihr nahe, Medizin zu studieren. Als Frau ihrer Zeit und zusätzlich noch auf dem Land wohnend, war diese Vorstellung für die 27-jährige Franziska absurd. Die Distanz, die seine Schwester erst überwinden musste, spricht sogar noch aus den Zeilen, die sie mit 80 Jahren schrieb: »›Emanzipierte Frauenzimmer‹ studierten an der Universität in Zürich Medizin.«
Doch Karl ließ nicht locker: Er unterrichtete sie in Algebra und Trigonometrie, denn das waren die Voraussetzungen für das Medizinstudium. Letzten Endes entschloss sich Franziska, dem Drängen ihres Bruders nachzugeben.
Nach ihrem Studienabschluss 1876 nahm sie dank Glück, Hartnäckigkeit und den guten Kontakten von Karl zunächst ein Volontariat in der gynäkologischen Klinik Dresden auf. Danach bezog sie zwei Zimmer in der Wohnung ihres Bruders und seiner Frau in Berlin. Inzwischen war Karl nämlich mit Henriette, der Zahnärztin, verheiratet.
Franziska Tiburtius eröffnete 1877 ihre eigene Arztpraxis, wobei sie sich das Wartezimmer mit ihrem Bruder teilte. Offiziell durfte sie sich allerdings nicht ›Ärztin‹ nennen. In Preußen gab es in den Reichsgesetzen keinen Paragrafen, der die Zulassung weiblicher Mediziner vorsah. Folglich erhielt sie keine Berufserlaubnis (Approbation). Unter dem Titel ›Dr. med. der Universität Zürich‹ arbeitete sie vorerst als ›Heilpraktikerin‹.
Zusätzlich richtete sie 1878 zusammen mit der Studienfreundin Dr. Emilie Lehmus (1841–1932) die erste Poliklinik für Frauen in Deutschland ein. Die Hinterhauswohnung in der Alten Schönhauser Str. 23 im Berliner Arbeiterviertel Mitte hatte ihnen ein Brauer mietfrei überlassen. Zu Beginn behandelten sie ausschließlich mittellose Frauen und Kinder. Der Zulauf war enorm, die Sprechstunde ging bis in die »sinkende Nacht«, und sie mussten die Patientinnenzahl auf täglich 40 beschränken. 10 Pfennig verlangten die beiden Ärztinnen pro Konsultation, aber oft brachten die Hilfesuchenden nicht mal die auf.
Bald erschienen auch bürgerliche Frauen in der Poliklinik, nachdem sie zur Erkundung ihre Dienstmädchen vorausgeschickt hatten.
Die Praxis musste erweitert werden, zog um und entwickelte sich zur ›Klinik weiblicher Ärzte‹, in der zeitweise acht Medizinerinnen, alle im Ausland ausgebildet und alle nur vorübergehend in Berlin Station machend, arbeiteten.
Die Frauen kämpften gegen viele Widerstände. So stieg der weltbekannte Charité-Arzt Prof. Dr. Rudolf Virchow (1821–1902) aus dem Gremium des Victoria-Lyceums aus, weil Franziska Tiburtius dort einen anatomischen Grundkurs für die Schülerinnen anbot. Für ihn war es nicht hinnehmbar, im Kuratorium einer Institution zu sein, die weibliche Ärzte als ›Referenten‹ bestellt.
Viele Jahre blieben Franziska Tiburtius, Emilie Lehmus und Henriette Hirschfeld-Tiburtius die einzigen Ärztinnen Deutschlands. Erst 1899 wurden Studentinnen aller Fachrichtungen an deutschen Universitäten zugelassen.
Franziska Tiburtius starb im Alter von 84 Jahren nach einem erfüllten Leben und wurde auf dem Stralsunder St.-Jürgen-Friedhof beigesetzt. Wenige Jahre vor ihrem Tod hatte sie Bilanz gezogen: »Daß ich von Anfang an mit Begeisterung an die Sache herangetreten bin, kann ich also nicht behaupten, (…) durchgeführt habe ich es aber doch, und ich füge gleich hinzu, daß ich sehr glücklich in meinem Beruf gewesen bin.«
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